Humboldt-Universität zu Berlin - Medienwissenschaft

Moritz Hiller: Maschinenphilologie


 

Vorliegendes Projekt hat die historischen und materiellen Wandlungen der Philologie aus medienwissenschaftlicher Perspektive zum Gegenstand. In den Blick geraten dabei philologische Praktiken und Institutionen (in primär deutscher Tradition), die entgegen ihrer neuhumanistischen Bestimmung um 1800 als nicht mehr menschlich oder anthropozentrisch begriffen werden können, weil sie nicht mehr oder nicht mehr nur von einem spezifischen humanen Subjekt ausgehen oder auf ein solches zielen. Andersherum formuliert wäre die These zu belegen, dass Philologie heute mindestens posthumanistisch zu denken ist, insofern dort nicht mehr nur oder primär Menschen, sondern auch ihr maschinelles Anderes schreibt, liest und versteht. Gleichwohl, und das gerät zur veritablen Herausforderung der Philologie im 21. Jahrhundert, sind ihre zentralen Begriffe und Verfahren noch immer weitgehend an das papierschriftliche Paradigma von Datenverarbeitung, dem auch der Neuhumanismus entsprang, gebunden. Ziel dieser Forschung ist damit eine Dissertation, die jene philologische Lage beschreibt. Anhand von drei Fallstudien zu aktuellen Schreibszenen, die – Rüdiger Campes Begriff erweiternd – heuristisch als posthuman charakterisiert werden können, sollen medienhistorischer Wandel und medientheoretische Herausforderung der Philologie dargelegt werden.

So bedarf es erstens und dringlich einer Befragung der Institution des Literaturarchivs, das heute zunehmend nicht nur papierbasierte, sondern auch hochtechnische Medien, also Schreibgeräte und Schriften, für die Forschung zugänglich machen und halten muss. Gegenstand der Untersuchung sind die zwei digitalen Artefakte aus den späten 1980er-Jahre, die im Berliner Nachlass Vilém Flussers überliefert sind: die Disketten-Edition von Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? sowie der Hypertext Prototyp 2. Aufgrund ihrer philologischen Materialität stellt diese Überlieferung nicht nur sehr praktisch die traditionellen Bestandserhaltungs- und Präsentationsstrategien von Literaturarchiven infrage, sondern auch, auf konzeptueller Ebene, dessen hermeneutische Begründung in der Folge von Goethe und Dilthey, die qua Provenienzprinzip zunächst ganz basal auf die Konstitution eines spezifischen Autorsubjekts zielt. Flussers spätes Schreiben zur Schreibzukunft in den oben genannten ,Werken‘, das, so die These, als Schreibszene zwischen diskursiver Theorie und literarischer Fiktion oszilliert, setzt an die Stelle genau dieses Subjekts ein posthumanistisches – inhaltlich wie materiell.

Zweitens bedarf es ebenso dringlich einer gleichermaßen philologisch wie informatisch fundierten Textkritik des operativen Schrift- oder Textphänomens, das den großen Teil heutiger Kulturen wohl auf maßgebliche Weise bestimmt: Software. Wie also, so wäre zu fragen, steht es um die Möglichkeit einer Software-Philologie? Zum Gegenstand werden dabei die am Deutschen Literaturarchiv Marbach überlieferten Sourcecodes, die Friedrich Kittler ab Ende der 1980er-Jahre programmierte, Schriften, die einerseits Produkte einer weiteren spezifischen Schreibszene des 20. Jahrhunderts sind – der Programmierszene – und die nun im Zuge einer Ausgabe Gesammelter Werke ediert und damit, nach ihrer Archivierung, doppelt zum Gegenstand von Philologie werden. Zu fragen wäre indes, was mit diesen Objekten genau zum Gegenstand wird oder werden kann. Wo beginnt oder endet der zu edierende Text von Software: im alphanumerischen Sourcecode, im kompilierten Objektcode, im laufenden Programm? Es steht mithin und unter anderem ein Textbegriff an, der auch das textuell Operative zu fassen und repräsentieren vermag, das dort am Werk ist, wo eine ihrerseits lesende und schreibende Maschine konstitutiv zur Textgenese beiträgt.

Drittens werden nach Jahren methodischer Euphorie innerhalb der sogenannten Digital Humanities (DH), die die Maschinisierung der Literaturwissenschaft proklamieren, nun kritische Stimmen laut, die fragen, worin das – vermeintlich humanistische – Argument der DH bestehe. Dieser Kritik (von etwa Johanna Drucker) folgend, wäre anhand einer digitalen Schreib- und vor allem Leseszene der neueren Philologie, Franco Morettis ›distant reading‹, zu zeigen, dass die DH nichts substantiell Neues über das Humane aussagen können. Denn: Wer liest Literatur im emphatischen Sinne, wo Menschen gerade noch die Analyse-Outputs quantifizierender Maschinen lesen? – Outputs, deren Lektüre wiederum so ›close‹ und gut hermeneutisch verläuft wie das Verfahren, von dem sich zuallererst qua Quantifizierung entfernt werden sollte. Reflektierten die DH dagegen die Materialität ihrer eigenen Schreib- und Leseszene, so würden sie erkennen, dass sie zwar nichts über die conditio humana, aber, so das Argument, einiges über das (immer schon) Maschinelle der Philologie aussagen können, und zwar gerade deshalb, weil sie die in der Philologie traditionellerweise getrennten Sphären quantitativer und hermeneutischer Fragestellungen und Verfahren gleichsam posthumanistisch kombinieren.

Die Untersuchung der philologischen Kulturtechniken, Operationen und Institutionen sowie der Schreibszenen, die sie bedingen, soll zeigen, wie die Philologie, mit N. Katherine Hayles zu sprechen, posthuman wurde. Ausgehend von der Beschreibung dieses Wandels ist anschließend die Möglichkeit gegeben, die Verfahrensweisen der Philologie und die ihnen zugrundeliegenden Konzepte, man denke nur an basale Begriffe wie ›Autorschaft‹ oder ›Text‹, aus der Perspektive einer medientheoretisch informierten, und das heißt vom Humanexzeptionalismus absehenden, Literaturforschung noch einmal neu zu akzentuieren.