Humboldt-Universität zu Berlin - Medienwissenschaft

Martin Carlé: Verzeitlichung des Unsäglichen

Die dynamis des Aristoxenos als zeitkritische Systemik im melodischen Potenzraum der Harmonie

 


 

Medienarchäologie erlaubt, im Unterschied zur Archäologie, Philologie oder historischen Musikwissenschaft, die dem klassischen Geschichtsmodell verpflichtet bleiben, eine synchrone Perspektive auf den Forschungsgegenstand einzunehmen. Indem sie als Methode die funktional-operative Dimension der beteiligten Vermittler, sowohl in materieller als auch in theoretischer Hinsicht, aktualisiert, (re-)inszeniert sie die epistemogene Qualität der jeweils vermittelten Zusammenhänge und kann so zur Neubewertung von Fundstücken, Textstellen und Theorien beitragen oder diese gar in ein ganz neues Licht stellen.

Im konkreten Fall des Verhältnisses der altgriechischen Musiknotation (parasēmantikē technē) zum notorischen, bereits in der Antike gepflegten Gegensatz von Pythagoreern und Aristoxenikern — sprich, arithmetischer Akustik und phänomenologischer Musiktheorie — ergibt sich anhand der strukturellen Gestaltung und den unterschiedlich funktionalen Kontexten, in welche die Notenzeichen jeweils gestellt wurden, ein musik-experimentelles und wissens-provozierendes Feld, dessen operative Dimension uns heute noch zugänglich ist.

Im Rahmen der Dissertation und entsprechend der obigen Methode soll dieser Zugang mit heutigen medientechnischen Mitteln geschaffen werden, die geeignet sind, die zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert diskutierten Sachverhalte und Umgangsformen mit der in dieser Zeit entwickelten Notenschrift sowohl phänomenal-akustisch als auch diagrammatisch-theoretisch (nach) zu vollziehen. Besonderes Ohren und Augenmerk ist dabei auf die jeweiligen Gründe zu richten, weshalb die Musiknotation weder bei den Pythagoreern, noch bei Aristoxenos als ein Instrument des Wissens propagiert wurde und welche epistemische, weitgehend unerforschten Allianzen sich aus der gemeinsamen Abstinenz ergeben.

Als Arbeitshypothesen seien genannt, erstens, dass Archytas arithmetisch ausgefeilte Einstimmungen nicht primär der Mathematik zu liebe, sondern durchaus mit Rücksicht auf die Instrumentalnotation erfolgte, wodurch jedoch der Möglichkeitsraum für melodische Modulationen künstlich eingeengt wurde und, zweitens, dass die Harmonischen Elemente des Aristoxenos einer allgemeinen Modulierbarkeit zu liebe jeglichen notationalen „Augenzucker“ aus einem zeitkritisch motivierten Prozessdenken heraus, letztlich mit einem strikt medientheoretischen Argument, ablehnen musste. Aus letzterer, präzedenzlosen Sicht lässt sich nicht nur eine über Jahrhunderte umstrittene Textstelle klären, sondern resultiert auch die nicht unheikle Aufgabe, aus der Defizienz eines Mediums, ähnlich einem „argumentum ex silentio“, Evidenzen generieren zu müssen. Dieser Umstand liefert, gewissermaßen in zweiter Ordnung, einen weiteren Grund dem Forschungsfeld medienarchäologisch zu begegnen und fordert, um zu einem überzeugenden, strapazierfähigen Argument zu werden, endlich eine dynamische Implementierung des aristoxenischen Melodiedenkens. Dann erst ändert sich das Licht und lässt sich zeigen, erstens, inwiefern die aristoxenische Einzelwissenschaft der Harmonie über die allgemeinen Bedingungen jeglicher Wissenschaft seines Lehrers Aristoteles hinausgeht — kurz, inwiefern die temporale Modallogik des Aristoxenos der aristotelischen Metaphysik widerspricht — und, zweitens, medientheoretisch mutmaßen, weshalb in Ermangelung dieser Demonstrierbarkeit außerhalb von Fachkreisen der Musik, die epistemologischen Implikationen einer zeitkritisch prozessierenden Logik für die Antike bis zum Aufkommen der modernen Rechenmaschinen ohne Konsequenzen blieben.

Der technische Aufwand für dieses Argument soll praktisch mit der Schaffung eines Expertensystems für altgriechische Musik auf Basis der Audio-Analyse- und Synthese-Programmierumgebung SuperCollider bewältigt werden, das gemäß dem (in den Konjekturalwissenschaften leider unüblichen) Standard der ‘reproducible research’ in die Dissertation integriert und schließlich der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden soll.

 

Martin Carlé (Athen), Juli 2014